Szientismus, Relativismus, Emotionen und Mystik
Warum Relativismus und Szientismus eng miteinander verbunden sind, und der einzige Ausweg darin besteht, die persönliche Begegnung mit der objektiven Wahrheit wiederherzustellen.
Früher diese Woche habe ich einen Zitat-Beitrag auf Instagram geschrieben, in dem ich für die Wichtigkeit der Führungsrolle des Intellekts bei unserem Denken (und sogar auch Fühlen) argumentiert habe. Darauf bekam ich ein sehr nachdenkliche und wertvolle Antwort, die ich es wert finde, weiter zu diskutieren.
Meine ursprüngliche Post als Text:
Als Kinder der Moderne haben wir oft gelernt, uns auf unsere Gefühle zu verlassen, um die Realität zu verstehen. Aber in Wirklichkeit sind unsere Gefühle kein Wegweiser und können es auch nie sein; sie sind ein Mitreisender. Unsere Gefühle sagen uns nur, was wir ohnehin schon fühlen, und wenn wir uns von ihnen leiten lassen, wird das nur zu einer Art Nabelschau. Wahrheit und Vernunft sollten das Ruder sein, das das Schiff unserer Gedanken und Gefühle steuert, nicht umgekehrt. Sonst verlieren wir nicht nur den Bezug zur Realität, sondern entwickeln auch erhebliche emotionale Probleme.
Zu dem wurden zwei Bedenken angesprochen:
dass diese Kritik an den Bedürfnissen der modernen Kultur weitgehend vorbeigeht, weil unsere Kultur den Verstand über den Gefühlen ohnehin erhebt, und die naturwissenschaftliche Methode als einziger zuverlässiger Weg zur Wahrheit sehen- und
dass im christlichen Glauben, Wert doch darauf gelegt wird, die Wahrheit zu finden durch mystische und spirituelle Erfahrungen.
Wie ich bereits in meiner Antwort erwähnt habe, halte ich diese Bedenken für völlig verständlich - und sie könnten sogar zum Teil auf terminologischen Unterschieden beruhen und nicht auf dem tatsächlichen Inhalt. Dennoch habe ich das Bedürfnis, ein wenig zurückzustecken und die zugrunde liegende Philosophie zu erläutern, die mich zu diesen Aussagen führt.
Ihr könnt ja meine etwas komprimierte Antwort auf diese Frage in meinem ursprünglichen Instagram-Post lesen, aber es ist nicht notwendig, diesem Blogpost zu folgen.
Der Relativismus ist ein größeres und tieferes Problem als der Szientismus
Die Gleichsetzung der naturwissenschaftlichen Methode mit der Vernunft (Scientismus) ist schon selbst eines der vorherrschenden Verwirrungen in unserer Kultur, die dem christlichen Glauben und überhaupt einer angemessenen Metaphysik im Wege stehen. Doch es gibt andere Annahmen, die tiefer und näher am Kern des eigentlichen Problems liegen als andere. Hier geht es um Relativismus.
Der relativistische Trend ist, wenn er richtig verstanden wird, in Wirklichkeit nur in seinen radikalsten Ausprägungen dem Scientismus entgegengesetzt. In Wirklichkeit stützen die allgemeinen Beobachtungen des Relativismus die Vorstellung, dass die Naturwissenschaft der einzige Weg ist, die objektive Wahrheit zu finden, und deshalb ist sie ein noch tödlicherer Feind für ein ganzheitliches Verständnis der Wirklichkeit als der Scientismus. Denn sobald die vom Relativismus beobachteten Probleme eine Lösung finden, können die Menschen leichter erkennen, dass der Scientismus als Ideologie ein brüchiges Kartenhaus ist.
Aber wie kann das sein? Wir haben es hier mit zwei der größten Hindernisse für den christlichen Glauben in der heutigen Zeit zu tun, die einander zu widersprechen scheinen: 1) die Naturwissenschaft ist der einzige Weg, um die objektive Wahrheit zu finden, und 2) die Wahrheit ist relativ und subjektiv, und doch habe ich behauptet, dass sie nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Warum ist das so?
Beim Relativismus geht es um Menschen, nicht um die Wahrheit an sich
Der wichtigste Grund ist folgender: Diejenigen, die den Relativismus in erster Linie als eine Aussage über die Welt und die Realität im Allgemeinen sehen, missverstehen ihn. Der Relativismus ist in erster Linie eine Aussage über die Menschheit. Dass unser vermeintlicher “Zugang zur objektiven Realität” eine nützliche Fiktion ist und dass das menschliche Verständnis der Welt durch die Kontingenz unserer eigenen Kultur, unserer religiösen Umgebung, unseres philosophischen Kontexts usw. stark eingeschränkt ist. Dass unsere Gehirne durch tierische Instinkte, Stammesverhalten und kognitive Defizite so eingeschränkt sind, dass wir nicht einmal ansatzweise objektiv denken können. Und dass deshalb jedes große Vertrauen in die "Wahrheit" sofort Skepsis hervorrufen sollte.
Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass der (oder ein) Hauptimpuls dieser philosophischen Wende viel mit der zivilisatorischen Desillusionierung im Europa der Nachkriegszeit zu tun. Kurz gesagt: "Schau, wohin uns der Wahrheitsanspruch gebracht hat. Nein, nie wieder." Diese existenzielle Erschöpfung des Nachkriegseuropas hat sich auf viele Arten ausgebreitet, über die man lange diskutieren könnte, aber der Relativismus ist der philosophische Arm davon. Ich habe in meiner Podcast-Episode "Ist Wahrheit Tot?" eine freundliche Kritik am Relativismus gemacht, falls es Euch interessiert.
Warum Relativismus zu Szientismus führt
Die natürliche Folge dieser Ideen ist, dass die Art und Weise, wie Menschen durch Denken, Vernunft und Abwägen Wissen bilden, von Natur aus unzuverlässig ist und man ihr nicht trauen kann. Das einzige Wissen, dem man vertrauen kann, ist daher das, das durch unabhängige Beobachtung und Kritik von Fachkollegen bestätigt wurde, was von einem System geeigneter Instrumente, einer Gesellschaft von Wissenschaftlern, die sich gegenseitig kritisieren können, der Finanzierung durch Institutionen und einer Gesellschaft, die die Wissenschaft generell unterstützt, usw. abhängt. Die Natur des Gegenstands der Naturwissenschaft (die materielle Welt) ermöglicht ihr diese Art von sekundärer Bestätigung der bloßen Theorie.
Die Naturwissenschaft beginnt zwar ähnlich wie jede andere Disziplin des theoretischen Denkens - sie hat philosophische Grundlagen und Annahmen, man stellt eine Theorie auf, die Theorie wird von anderen Gelehrten kritisiert usw., aber eine Fähigkeit, die die Naturwissenschaft hat und die zum Beispiel die Philosophie in den meisten Fällen nicht hat, ist die Falsifikation durch einen Bereich außerhalb des reinen menschlichen Denkens.
Sobald eine Hypothese aufgestellt wurde, kann man Vorhersagen über die physikalische Welt treffen, die wahr wären, wenn die Theorie wahr wäre, und falsch, wenn sie falsch wäre. Wenn diese Vorhersagen bestätigt werden, wird die Theorie dadurch erkenntnistheoretisch zuverlässiger. Das war und ist revolutionär, denn es bietet eine erweiterte Methode zur Eliminierung falscher Theorien, die andere Disziplinen von Natur aus nicht haben.
In diesem Beitrag werde ich nicht auf die signifikanten philosophischen Probleme eingehen, die zwangsläufig mit der Schlussfolgerung verbunden sind, dass die Wissenschaft der einzige Weg ist, um zu verlässlichen Erkenntnissen über die Welt zu gelangen, aber dies ist der Grundgedanke: Menschliche Urteile sind extrem unzuverlässig, aber wenn wir Möglichkeiten haben, sie zu bestätigen und zu überprüfen und sie mit Hilfe von Instrumenten und Beobachtungen aus der realen Welt zu untermauern, haben wir eine vernünftige Chance auf Objektivität.
Was hat das mit meinem ursprünglichen Beitrag zu tun?
Wahrheit als Identifikation statt Bekenntnis
Nun - ich glaube, dass wir in der Gesellschaft zwei große Veränderungen erlebt haben. Erstens: Weil wir das Vertrauen in die tatsächliche Erkennbarkeit der metaphysischen Realität verloren haben, hat sich die Vorstellung von Wahrheit langsam zu einem Ausdruck der persönlichen Identifikation gewandelt. Du glaubst nicht, dass eine Idee objektiv wahr ist: Du identifizierst dich mit ihr. Mit dieser Konzentration auf die persönliche Identifikation statt auf das Bekenntnis zu einer objektiven Realität rückt die Vorstellung, dass persönliche Gefühle und Emotionen unsere Wahrnehmung leiten, immer mehr in den Vordergrund. "Folge deinem Herzen", "Sei dir selbst treu" - solche Sätze sind dem Leser vielleicht vertraut.
Die Institutionalisierung und Objektivierung des Wissens
Die zweite große Veränderung besteht darin, dass mit der Verlagerung der Betonung dessen, was als wirkliches Wissen gilt, auf das institutionelle Gebäude der wissenschaftlichen Forschung, haben das kritische Denken und die Betonung des Individuums als Subjekt des Wissens auf tragische Weise an Bedeutung verloren. Die absolute Notwendigkeit der individuellen Begegnung mit der Wahrheit, der Vernunft und der wahren Welt ist zugunsten einer eher institutionellen Auffassung von Wissen und Autorität in den Hintergrund getreten.
Aber das ist natürlich nur eine logische Folge der relativistischen Wende. Wenn die einzige Möglichkeit, die Welt zuverlässig zu kennen, darin besteht, sich auf die institutionelle Naturwissenschaft zu verlassen, und die Philosophie selbst als Produkt des menschlichen Denkens unzuverlässig ist, warum sollte man sich dann noch die Mühe machen, wirklich intensiv über Philosophie, Logik, Moral, Ethik usw. nachzudenken? Wäre das nicht nur eine Übung der persönlichen Vorliebe und Subjektivität, anstatt mit der realen Welt in Kontakt zu kommen? Philosophische Ideen werden eher zu Moden und "Zeichen der Zeit" als zu wirklich wahren Überzeugungen über die Welt und beim Lesen von Philosophen der Vergangenheit geht es nur noch darum, Einflüsse auf ihr Denken zu erkennen, anstatt sich ernsthaft die Fragen zu stellen, die sie sich auch selbst gestellt haben.
Wer anfängt, sich ernsthaft mit Philosophie zu befassen, sollte natürlich ziemlich schnell all die Probleme erkennen, die mit dieser verzerrten Auffassung von Wissen und Wahrheit einhergehen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dies der Zustand ist, in dem sich unsere Gesellschaft befindet.
Die Wahrheit in uns selbst zu suchen is weit verbreitet, aber irreführend
Diese moderne Hinwendung dazu, sich auf die eigenen Gefühle und allgemeinen existenziellen Vorlieben zu verlassen, ist schlichtweg falsch, wenn wir wirklich versuchen wollen, mit der objektiven Realität in Kontakt zu treten, egal wie begrenzt, denn sie geht von der relativistischen Prämisse aus, dass die objektive Realität entweder großenteils oder völlig unerkennbar ist und es uns überlassen bleibt, uns in unserer eigenen existenziellen Sphäre zurechtzufinden und das zu finden, was uns als Weltanschauung gefällt, anstatt es außerhalb von uns zu suchen.
Mystik unterscheidet sich kategorisch von Emotionen
Das andere Problem ist, dass die (durchaus verständliche) Befürchtung, dass die Betonung von Vernunft und Wahrheit die Gefühle ausschalten wird, die Tatsache verrät, dass wir seit der konsumorientierten materialistischen Transformation der Nachkriegsgesellschaft den Kontakt zur echten Mystik fast völlig verloren haben. Mystik bedeutet nicht, sich auf seine Gefühle zu konzentrieren oder sich von ihnen leiten zu lassen, sondern sich ganz der Wahrheit hinzugeben und zuzulassen, dass sie das eigene Bewusstsein in einer Weise überflutet, die die Seele völlig transformiert. Das Thema des Sterbens und Auferstehens mag christlichen Lesern vertraut sein. Mystik ist notwendigerweise eine vollständige Kapitulation - man opfert sogar die "Autorität" der eigenen Gefühle im eigenen Bewusstsein, um sich dem Wirklichen, Wahren und Guten völlig hinzugeben. Aber das Opfer wird reichlich belohnt mit auferstandenen Gefühlen, die nicht auf sich selbst schauen.
Der Apostel Paulus lehrte in seinem ersten Brief an die Korinther, dass alles, was lebendig werden soll, zuerst sterben muss: "...was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt!" Besonders im Hinblick auf das menschliche Leben ist das wahr. Natürliche Liebe kann nicht zu wahrer Liebe werden, bevor sie sich selbst stirbt. Bloßes Glück kann nicht zu Freude werden, bis es sich selbst stirbt. Rachsucht kann nicht zu Gerechtigkeit werden, bis sie sich selbst stirbt.
Aber das große Geheimnis ist, dass der Tod keine hoffnungslose Reise in den Abgrund ist, sondern nur der Beginn eines neuen Lebens. In C.S. Lewis' Buch "Die große Scheidung" (The Great Divorce) wird der Kampf eines Mannes mit seiner eigenen Gewohnheit der sexuelle Lust geschildert. Er spricht mit einem erlösten Geist im Himmel, und versucht, sein Festhalten an der Gewohnheit (die in der Geschichte als Eidechse dargestellt wird) zu rechtfertigen. Der Geist besteht aber darauf, dass die Eidechse sterben muss und nicht einfach nur beibehalten und “unter Kontrolle gehalten” werden kann, wenn er weiter in den Himmel reisen will. Die Eidechse selbst bekommt schließlich ihre eigene Stimme und argumentiert, dass sie es verdient, zu leben und dass sie in der Zukunft ganz gut sein wird. Am Ende aber überzeugt der Geist den Mann, zu kapitulieren und ihn die Eidechse töten zu lassen.
Doch dann geschieht etwas Seltsames und Unerwartetes.
Anstatt tot auf dem Boden zu liegen, verwandelt sich die zerquetschte Eidechse langsam und wird immer größer, entwickelt Muskeln und Beine und wird zum größten Hengst, den der Mann je gesehen hat, und strahlt Stärke und Schönheit aus. Auch der Mann selbst hatte sich verwandelt - er wurde stark genug, um an den Ufern des Himmels zu laufen. Er steigt auf den Hengst - seinen alten Freund, aber völlig neu und verwandelt, der nun für die echte Liebe steht, die gereinigt und neu gemacht wurde, nachdem seine Bindung an die Lust getötet wurde. Dann reiten sie in die Berge des Himmels, während sie Psalmen der Freude und Anbetung rezitieren.
Zusammenfassend:
Ich finde die Bedenken, die in zu meinem Beitrag geäußert wurden, sehr verständlich und spiegeln auch im Allgemeinen wider, wie viele Christen darauf reagieren würden. Ich finde jedoch, dass sie auf Annahmen beruhen, mit denen wir sehr vorsichtig sein müssen.
Die allgemeine Tendenz unserer Kultur (die sowohl von Christen als auch von Nichtchristen geteilt wird), den christlichen Glauben auf eine Art und Weise zu begreifen, die Emotionen als den einzigen oder besten Weg zur Entdeckung seiner Wahrheit darstellt, erweist nicht nur kritischen Denkern einen schlechten Dienst, sondern auch dem christlichen Leben selbst, indem sie die zeitgenössische Annahme unkritisch akzeptiert, dass wir die Wahrheit entdecken, indem wir unseren Gefühlen folgen, anstatt diese Gefühle der Wahrheit zu unterwerfen.
Ich sage es aber ganz klar: Die Emotionen an sich sind nicht schlecht oder böse. Sie spielen eine wichtige Rolle bei unserem Wachstum und unserer Entwicklung als Menschen und das ist gut so. Aber sie müssen im Laufe unseres christlichen Lebens umgewandelt werden, indem wir von uns selbst wegschauen. Sie müssen zuerst sterben und der Wahrheit weichen, damit sie zur Wahrheit werden - das ist es, was die mystische Erfahrung ausmacht.
Diese transzendente Güte, die uns mit einer Sehnsucht nach etwas anzieht, das nichts auf dieser Erde entspricht, ist nicht nur eine Emotion, so wie Angst oder sexuelle Lust eine Emotion ist, wie Lewis in seinem Buch "Surprised by Joy" elegant zum Ausdruck bringt. Sie ist von einer anderen Substanz und hat ein anderes Ziel, nämlich der, der die transzendente Schönheit und das Gute selbst ist.
Vernunft und Wahrheit im eigentlichen Sinne - und nicht im Sinne der kindischen Vorstellung, dass die naturwissenschaftliche Methode der einzige Weg ist, die Wirklichkeit zu erkennen - laden uns in eine völlig neue Wirklichkeit ein, in die wir nur dann wirklich eintreten können, wenn wir uns selbst zuerst sterben.