Seit den Zeiten der Jägern und Sammlern bis hin zu den Demokratien des 21. Jahrhunderts haben wir Menschen immer wieder Wege gefunden, uns entlang verschiedener Identitätslinien zu spalten und gegeneinander Krieg zu führen, ob nur mit Wörter oder dann auch mit Waffen.
Aber warum ist das? Warum scheint es, dass wir gerade in den wichtigsten Bereichen des Denkens und Glaubens, also gerade wo es wirklich zählt, nicht in der Lage sind, einander zu verstehen, wenn wir nicht einer Meinung sind?
Und selbst wenn wir dazu eine Antwort finden, ist die wichtigste Frage: Gibt es einen Ausweg?
Einleitung
Hallo und herzlich Willkommen zu meinem Podcast. Ich möchte euch ein Buch vorstellen, das mich dazu gebracht hat, über diese Fragen nachzudenken und wirklich praktische Wege zu finden, um objektiver über die Ideen von anderen Menschen zu denken. Aber zuerst möchte ich dich bitten, diesen Podcast zu liken und folgen oder zu bewerten, je nach Plattform wenn du ihn hilfreich findest!
Also gut, fangen wir an: "The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion" (Der gerechte Verstand: Warum gute Menschen durch Politik und Religion getrennt sind) ist der Titel von Jonathan Haidts Buch, das seine Forschung über moralische, politische und religiöse Psychologie zusammenfasst und 2012 erschienen ist. Die allgemeine These von Haidts Buch ist eine gute und eine schlechte Nachricht für die Menschheit. Die schlechte Nachricht ist, dass der Mensch von Natur aus kein sehr objektives Wesen ist und dass wir selbst in der zivilisierten Gesellschaft zu Stammesverhalten neigen. Dass wir dazu neigen, Menschen mit gegenteiligen Ideen, Religionen, politischen Ansichten usw. zu beschimpfen, weil wir immer noch die evolutionär bedingte Tendenz zur Stammesidentität in uns tragen. Die gute Nachricht: Haidt glaubt, dass es möglich ist, unsere Überzeugungen objektiver zu bilden, und erklärt die psychologischen Grundlagen, wie das geschehen kann.
Nun in diesem Buch wirds deutlich, dass Haidt ein Atheist ist, der glaubt, dass die menschliche Moral lediglich auf naturalistische evolutionäre Ursprünge reduziert werden kann. Und auch wenn ich als Christ keine philosophische oder theologische Probleme mit der Idee der gemeinsamen Abstammung und der Evolution im Allgemeinen sehe, ist mein Verständnis der letzten Ursache und der Teleologie der menschlichen Moral zu verstehen, weit von Haidts Verständnis der Welt entfernt. Ich werde mich sogar bemühen, auf Bereiche hinzuweisen, in denen ich denke, dass Haidt eher seine naturalistischen Annahmen als seine wissenschaftliche Forschung zu Wort kommen lässt. Das passiert eigentlich ziemlich oft bei Büchern, von verschiedenen öffentlichen Intellektuellen, deren Schlussfolgerungen angeblich auf reiner wissenschaftlicher Forschung beruhen, aber in Wirklichkeit haben sich viele philosophische Annahmen in die Grundlagen ihres Denkens eingeschlichen.
Nichtsdestotrotz habe ich großen Respekt vor Haidt, weil er sich wirklich in seine Forschung gestürzt hat und sich von ihr verändern ließ.
Und gerade das ist etwas, was ich wirklich schön und inspirierend finde: wenn die Forschung und das Streben nach Wissen nicht von unserem wirklichen Leben abgeschottet wird; wenn wir wirklich zulassen, dass die Ideen, die wir studieren und über die wir nachdenken, uns so tief berühren, dass wir unser Leben verändern. Ich finde, dass Haidt hervorragende Arbeit geleistet und sogar auch intellektuelle Tugend gezeigt hat, weil er diesen Ideen nachging und seine Meinung änderte, als er erkannte, dass seine Annahmen falsch waren.
Dann lass uns eintauchen und einige der wichtigsten Ideen des Buches aufschlüsseln.
Erstens: Evolutionäre Theorien über die Entwicklung der Moral sind plausibel
Haidt argumentiert, dass die menschliche Moral nicht so ist wie gemeinhin angenommen: das sie auf ihrer grundlegendsten Ebene ein Auswuchs des menschlichen Denkvermögens ist, das auf abstrakte Konzepte von Fairness und Gerechtigkeit angewandt wird, die im täglichen Leben ständig ausgearbeitet werden - als eine Art Rationalismus. Er ist der Meinung, dass sie sondern vielmehr ein komplexes Netzwerk von inneren moralischen Intuitionen, die zusammenwirkten, um menschliche Gruppen in unserer Evolutionsgeschichte zu erhalten. Und nicht nur das: Es handelt sich um eine überprüfbare Theorie, die falsifizierbare Vorhersagen machen kann und Erklärungskraft hat.
Der wichtigste Ausgangspunkt ist, dass die Evolutionstheorie bei der Erklärung vieler Merkmale des menschlichen Körpers und der genetischen Veranlagung extrem leistungsfähig ist, wie können wir dann nicht zu dem Schluss kommen, dass sie auch eine bedeutende Rolle bei der Erklärung der Muster in der menschlichen Psychologie gespielt hat?.
Nun kulturell und politisch gesehen ist der Punkt, den Haidt hier anspricht, sehr umstritten. Obwohl viele in der westlichen Welt den Theismus und insbesondere die abrahamitischen Religionen als übergreifende Weltanschauung aufgegeben haben, die sowohl die biologischen Merkmale der Lebewesen als auch die menschliche Psychologie erklärt, sind viele nicht bereit, die Idee zu akzeptieren, dass die naturalistische Evolution die primäre Erklärung für die menschliche Moral ist. Sie befürchten, dass die Unterscheidung zwischen Ist und Soll in der Gesellschaft verloren gehen könnte. Persönlich finde ich diese Angst verständlich.
Wenn die Evolution auf dem Erfolg derjenigen Lebewesen beruht, die die Fortpflanzung ihres eigenen Blutes am besten gewährleisten, bedeutet das dann nicht, dass die "letzte Ursache" für die moralische Ausstattung, die wir als Menschen entwickelt haben, die sexuelle Fortpflanzung ist? Und wenn wir wissen, dass unsere letzte Ursache als Menschen die sexuelle Fortpflanzung ist, warum überspringen wir dann nicht die ausgeklügelte gesellschaftliche Umsetzung und gehen direkt zu Vergewaltigung, Mord, Diebstahl, andere für unsere eigenen Zwecke misshandeln, die dies direkt garantieren? Warum nicht Eugenik und alles, was daraus folgt, praktizieren? Zu welchen anderen gefährlichen Schlussfolgerungen über die Menschheit könnte uns dieses Forschungsgebiet führen, die in der realen Welt zu Schaden und Gewalt führen könnten?
Wir sollten uns aber erinnern, dass die Unterscheidung zwischen Ist und Soll eine echte und wichtige Unterscheidung ist und dass wir die wissenschaftliche Forschung oder die Suche nach der Wahrheit nicht aufgeben können, nur weil die Menschen auf der Grundlage unserer Ergebnisse möglicherweise fehlerhafte Schlussfolgerungen ziehen. Wenn die Evolutionstheorie plausible Erklärungen für die menschliche Moral liefert, sollten wir in diese Richtung gehen und dabei nicht vergessen, dass die normative Moral nicht aus den Naturwissenschaften kommt, sondern aus den Humanwissenschaften, und wir haben noch keinen Grund gefunden und werden auch nie einen Grund finden, eine Beschreibung dessen, was ist, als Rezept für das, was sein sollte, zu akzeptieren, wenn es um die Moral geht.
Als Christ, der, wie bereits erwähnt, keine Probleme mit evolutionären Erklärungen für die Menschheit und sogar mit einer vollständig naturalistischen Theorie der Erzeugung genetischer Informationen innerhalb der Grenzen der Raumzeit hat, sehe ich die Evolution eher als ein Ergebnis davon, dass Gott eine sich selbst erschaffende Welt geschaffen hat. (mit anderen Worten: Warum müsste Gott eigentlich korrigierende Wunder vollbringen, wenn es für ihn möglich ist, es gleich beim ersten Mal richtig zu machen?)
Ich neige zu der Überzeugung, dass Gott die physische Welt mit Anfangsbedingungen ausgestattet hat, die zu bestimmten Ergebnissen führen. Deshalb kann ich nicht behaupten, dass die Evolution, selbst wenn man sie kausal auf eine vollständig naturalistische Kausalkette beschränken würde, an sich nur auf die Fortpflanzung ausgerichtet ist. Ich glaube, dass der Evolutionsprozess des biologischen Lebens ein echtes Ziel hatte, das ihm von Gott auferlegt wurde und das die Fortpflanzung erfolgreicher Arten einschließt, aber nicht darauf beschränkt ist. Wenn man eine naturalistische Weltanschauung vertritt, muss man glauben, dass dies der einzige objektive Zweck ist, auch wenn das Konzept des Zwecks selbst in einer Welt ohne Intentionalität illusorisch ist.
Da es Gottes Absicht für die Menschheit ist, eine intellektuelle und emotionale Teilhabe an der Moral zu haben, die sein Wesen ausmacht, hat dies Auswirkungen auf die moralische Entwicklung seiner Ebenbilder und den Umfang der Erklärungskraft, die nicht-gezielte oder nicht-beeinflusste Evolutionsprozesse spielen können und sollten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Haidt und ich uns einig sind, dass die Evolutionsgeschichte wahrscheinlich eine große Rolle bei der Entwicklung der menschlichen Moral und Psychologie spielt. Aber wenn er behaupten würde (und ich bin mir nicht ganz sicher, dass er das tut), dass evolutionäre Prozesse das einzige Ding sind, das damit zu tun hat, würde er meiner Meinung nach die Grenzen des methodologischen Naturalismus überschreiten und in den philosophischen Naturalismus eintreten. And that is a philosophical question, not a scientific question.
Zweitens: Menschliche Vernunft: Ein Elefant und ein Reiter
Im Laufe der menschlichen Geschichte haben wir uns überwiegend als primär rationale Wesen definiert, die unter Verblendungen, Versuchungen, Begierden und Leidenschaften leiden, die uns daran hindern, unsere Rolle als primär rationale Wesen zu erfüllen.
Aber Haidt ist da anderer Meinung. Ausgehend von einigen sehr überzeugenden Forschungsergebnissen, die er bei der Ausarbeitung der Ideen für sein Buch gewonnen hat, kam er zu dem Schluss, dass Menschen in erster Linie intuitive gefühlsbetonte Kreaturen sind, die ihre Gefühle strategisch mit Gründen rechtfertigen. Der Mensch beginnt mit einer moralischen Intuition - zu der wir gleich noch kommen werden - und zieht aus dieser tiefen moralischen Intuition Schlussfolgerungen, die dann rational begründet werden.
Praktisch gesehen: selbst wenn dir jemand mit philosophischen Argumenten beweisen könnte, dass es falsch ist, andere Menschen gerecht zu behandeln, oder dass es gut ist zu lügen, würdest du höchstwahrscheinlich trotzdem versuchen, andere fair zu behandeln und nicht zu lügen, weil du eine tiefe moralische Intuition hast, dass dies das Richtige ist. Oder vielen Menschen, wenn sie zutiefst davon überzeugt sind, dass es Gott gibt oder nicht gibt, reicht jedes Argument, während kein Gegenargument jemals Erfolg haben kann.
Die Vernunft, so Haidt, spielt in unserem Denken eine untergeordnete Rolle. Unser rationaler Verstand ist wie ein Reiter auf einem Elefanten. Wenn der Elefant sich leicht nach links neigt, findet unser Reiter automatisch Wege, um die Linkskurve zu rechtfertigen. Wenn wir zutiefst empfinden, dass etwas falsch ist, finden wir Gründe dafür, selbst wenn die Gründe von sehr geringer Qualität sind. Haidt erzählt eine Geschichte, in der er einen Vater und seinen kleinen Sohn auf der Toilette eines Fast-Food-Restaurants belauschte. Der Sohn wollte unbedingt wissen, warum er nicht ins Pissoir kacken konnte. Der Vater brachte alle möglichen Erklärungen vor, aus denen sich der intelligente Sohn hypothetisch herauswinden konnte, bis der Vater schließlich verärgert sagte: "Wenn du das tun würdest, bekämen wir alle Ärger!
Als ich die Geschichte hörte, musste ich lachen und dachte: "Ich weiß, dass es falsch wäre, so etwas zu tun, aber eine klare Erklärung fällt mir nicht ein!". Ich glaube, die Antwort lässt sich am besten mit einem allgemeinen ethischen Grundsatz beschreiben: Sauberkeit und Ordnung in unserem äußeren Leben spiegeln die innere Ordnung unseres eigenen Geistes wider. Wenn wir Dinge, die wir für "unrein" halten, an Orte stellen, die wir für "sauber" oder jedenfalls sauberer halten, würde das einen Verstoß gegen die innere Ordnung unseres eigenen Geistes darstellen. Versuch mal, das deinem eigenen Kind zu erklären, oder noch schwieriger, es in einem Tweet mitzuteilen. Das ist tatsächlich eine moralische Intuition, die wir alle von Natur aus haben. Menschen, die sich nicht daran halten, tun das nicht zufällig, sondern sie scheinen entweder gestört, psychologisch unterentwickelt zu sein oder absichtlich dagegen zu rebellieren.
Faszinierend ist, dass in den Studien, die Haidt und seine Kollegen durchgeführt haben, selbst dann, wenn freiwillige Probanden in Interviews (die speziell an unterschiedliche moralische Intuitionen appellieren sollten) keine rationale Rechtfertigung für ihre Ansichten finden konnten, in vielen Fällen diese Ansichten weiterhin stark vertreten haben, selbst wenn sie auf überzeugende Argumente gegen sie gestoßen sind.
Auf den ersten Blick deutet dies darauf hin, dass Menschen dazu neigen, bestimmte moralische, politische und philosophische Positionen nicht in erster Linie aus der Sorge um das Wahre und letztlich Richtige heraus zu vertreten, sondern aufgrund der emotionalen und kulturellen Bedeutungen, die sie damit verbinden, und weil sie ihren tief verwurzelten moralischen Intuitionen entsprechen. Steht das im Widerspruch zu deiner eigenen Erfahrung?
Aber, wie oben erwähnt, ist es nicht der Fall, dass niemand seine Meinung ändert als Reaktion auf überzeugende Argumente. Haidt argumentiert, dass es zwar möglich, aber selten ist, dass Menschen ihre Meinung allein aufgrund von Argumenten ändern. Er argumentiert, dass der beste Weg, jemanden von etwas zu überzeugen, darin besteht, zuerst seine Empathie dafür zu gewinnen. Wenn der Elefant sich bereits in eine bestimmte Richtung neigt, mag der Reiter zunächst geneigt sein, die entgegengesetzte Richtung aufgrund rationaler Argumente zu verteidigen, wird aber am Ende aufgrund des immensen Einflusses, den der Elefant auf ihn hat, wahrscheinlich gezwungen sein, sich in die Richtung des Elefanten zu neigen.
Nun das ist ein riesiges Thema, das ich in einer Buchbesprechung leider gar nicht ausreichend auspacken kann. Hier sind aber ein paar meiner persönlichen Gedanken zu diesem Abschnitt:
Ich möchte mit dem beginnen, was ich sehr inspirierend und hilfreich fand. Du hast also den Grundgedanken, dass unsere Empfindungen und Gefühle eine extrem starke Kraft sind, die die Richtung unseres Denkens bestimmt. Ich werde Haidts Ansichten über die ontologischen Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Teilen unseres Bewusstseins zunächst unkommentiert lassen, aber ich kann im Allgemeinen dieser Beobachtung definitiv zustimmen, und sei es nur aus dem Grund, dass ich sie ständig bei mir selbst beobachte.
Wenn du so bist wie ich, bist du nicht nur ein Gehirn am Stiel, sondern du entwickelst auch entsprechenden Gefühle und Empfindungen, fast so, als ob diese unterbewusst die kognitiven Überzeugungen widerspiegeln, die sie prägen. Diese Gefühle repräsentieren den Elefanten. Mein bewusster, rationaler Verstand stellt jedoch den Reiter dar. Da ich Christ bin, laufe ich im Umgang mit Atheisten Gefahr, ihre Argumente nicht ernst nehmen zu können, weil die religiösen Gefühle in mir so stark in eine religiöse Richtung tendieren, dass ich nicht anders kann, als weiterhin zu versuchen, sie rational zu rechtfertigen. Das bedeutet, dass es durchaus möglich ist, dass ich mich mit ihren Argumenten auseinandersetze, ohne sie überhaupt ernst nehmen zu können, weil ich von meinen Gefühlen und Intuitionen so geblendet bin. Das gilt für jeden, der eine bestimmte Weltanschauung vertritt. -- ADD -: Not only that, but it also
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, mit dem sich fast jeder identifizieren kann: Politik. Auch bei unseren politischen Ansichten neigen wir dazu, bestimmte Empfindungen, Intuitionen und Gefühle rund um unsere Überzeugungen zu entwickeln. Nun stell dir vor, welche Menschen im politischen Spektrum du heute am meisten verwerflich oder unverständlich findest. Schau in dich hinein und überlege dir, wie du auf den Gedanken an diese Menschen reagierst. Fühlst du dich von ihnen angewidert? Oder spürst du Feindseligkeit in dir? Oder sogar ein herablassendes Bedauern?
Aber hier ist eine wichtige Frage: Bist du in der Lage, während du diese Dinge fühlst, wirklich ernsthaft, sorgfältig und objektiv über den wirklichen Inhalt der Argumente nachzudenken, die sie vorbringen? Ich meine nicht: "Hast du das Gefühl, dass du einen allgemeinen Überblick über die Argumente hast, die sie vorbringen?", sondern vielmehr: "Kannst du dich mit den intellektuellen und erfahrungsbedingten Standpunkten, von denen sie ausgehen, so identifizieren, dass du deine Meinung tatsächlich ändern würdest, wenn du die Beweise überzeugend findest?"
Ich denke, die Antwort darauf ist in den meisten Fällen "nein". Und das ist einer der Punkte, die Haidt anspricht und die ich sehr aufschlussreich fand. Das ist etwas, worüber wir wirklich einmal nachdenken sollten. Wenn du erkennst, dass es nicht nur psychologische Beweise aus deiner eigenen Erfahrung gibt, sondern auch klinische Beweise aus der Beobachtung, dass Menschen oft nicht in der Lage sind, ernsthaft gegen den Strich ihrer zugrundeliegenden Gefühle zu denken, um neue und andere Einsichten über die Welt zu erkennen, ist es, als würdest du feststellen, dass deine Fähigkeit, die Welt klar zu sehen, beeinträchtigt ist. Und das kann bis zu einem gewissen Grad erschreckend sein, wenn du sehr darauf bedacht bist, die Wahrheit zu finden.
Stell dir vor, einem Militärchirurgen wurden privat zwingende Beweise dafür vorgelegt, dass er bei Operationen an Patienten zu leichtsinnigen Fehlern neigt, die in einigen Fällen sogar zum Tod seiner Patienten geführt haben - auch wenn er es in dem Moment nicht merkt. Und doch konnte er es nicht vermeiden, Operationen durchzuführen, weil er der einzige Arzt in der Gegend ist. Wenn du dich in seine Lage versetzen würdest, könntest du dir vorstellen, wie schrecklich das wäre. In einem Bereich, in dem er die höchste Verantwortung trägt und nicht ersetzt werden kann, stellt er fest, dass er eine kognitive Beeinträchtigung hat, von der er nicht bewusst war und die er nun ständig im Auge behalten muss, um seine Arbeit zu erledigen.
Ich glaube nicht, dass die Situation bei uns Menschen ganz anders ist. Da alles, was wir entscheiden, priorisieren oder denken, auf der Annahme beruht, dass unsere Leitprinzipien und Überzeugungen wahr sind, ist das Streben nach wahren Überzeugungen eine der höchsten Aufgaben, die wir als Menschen haben, und doch hat Haidt gezeigt, dass wir gerade bei dieser Aufgabe in unserer Fähigkeit, sie auszuführen, stark beeinträchtigt sind.
Und diese Beeinträchtigung kann sehr prägend sein. Das ist der Grund, warum es Menschen aus stark fundamentalistischen religiösen Sekten an den Universitäten oft ziemlich weit gelangen können, ohne ihre weniger vernünftige Meinungen zu ändern, oder warum fundamentalistische linke oder atheistische Gruppen, die für die Zerstörung der Religion und aller traditionellen Werte und Strukturen eintreten, in der gleichen Gesellschaft überleben können mit Menschen, die besonders gute Argumente gegen ihre Weltanschauung haben: Es ist nicht so, dass diese Leute es völlig vermeiden müssen, Argumente vom Rest der Gesellschaft zu hören, und sich jedes Mal die Ohren zuhalten, wenn etwas gesagt wird, das ihren Ideen widerspricht - es ist viel subtiler und perfektionierter als das. Es ist genau dieses Verschließen des Herzens und des Verstandes gegenüber allen, die nicht zu ihrer Gruppe gehören, und dadurch wird jedes potenzielle Argument eines ideologischen Gegners jeglicher Ernsthaftigkeit und jedes Respekts beraubt, indem es als lächerlich oder sogar böse dargestellt wird. Aus diesem Grund ändern Menschen in solchen Situationen oft ihre Meinung erst wenn sie enge Freundschaften mit Menschen anderer ideologischer Überzeugungen schließen und dann plötzlich fallen diese Mauern, und der wahre intellektuelle Gehalt der Ideen auf sie einwirkt.
Diese Mauern, die wir gegen andere errichten, sind auch gesellschaftlich reproduzierbar - wir können jedem die Glaubwürdigkeit rauben, indem wir ihn als Mitglied einer Gruppe darstellen, gegen die unser Inselvolk Scheuklappen angelegt hat und sich weigert, sie ernst zu nehmen. Denk mal drüber nach: In der heutigen Kultur malen wir Ideen oder Menschen als links, rechts, querdenkerisch, kommunistisch, fundamentalistisch, veraltet usw. zu sein, um sie in den Augen anderer ohne Weiteres unglaubwürdig zu machen. Wie viele Ideen lehnst du ab, ohne sie jemals ernst genommen zu haben, weil du einfach nicht glaubst, dass sie es verdienen, ernst genommen zu werden?
Doch wenn man genauer darüber nachdenkt, stellt man fest, dass dieses Paradigma für die Beurteilung dessen, was wahr ist oder nicht, völlig am Thema vorbeigeht und oft eher eine selbstbewahrende soziale Grenze widerspiegelt als so etwas wie intellektuelle Tugend. Und es ist wichtig zu erwähnen, dass dies nicht auf fundamentalistische und offensichtlich völlig verschlossene Menschen beschränkt ist, sondern in allen Gesellschaftsschichten und auf allen Ebenen der persönlichen Reife vorkommt - auch und gerade in akademischen und universitären Einrichtungen, in denen die Suche nach der Wahrheit über die Welt den höchsten Wert darstellt, und selbst bei den aufgeschlossensten Menschen. Wir sind nie vor ihr sicher.
Die gute Nachricht ist, wie Haidt selbst sagt, dass sie überwunden werden kann. Nur dass diejenigen, die sie in hohem Maße gewohnheitsmäßig überwinden, eher die Ausnahme als die Regel sind. Die einzige Möglichkeit, sie zu überwinden, besteht darin, diese Realität nicht zu ignorieren, sondern sie zu umarmen und ihr ständig entgegenzuwirken.
Wie können wir das tun?
Nun, einer der Bereiche, in denen diese kognitive Blindheit auftritt, ist Feindseligkeit, Abneigung und Spott. Hast du dich schon einmal über die Überzeugungen einer anderen Person lustig gemacht, weil du sie lächerlich fandest? Ich schon. Und ich bin versucht, das jeden Tag zu tun, vor allem, wenn ich auf Menschen treffe, deren Überzeugungen und Gefühle mir zuwider sind. Ich bin jedoch persönlich davon überzeugt, dass der negative Spott über den Glauben anderer Menschen in unserem eigenen Kopf eine gewisse Schicht kognitiver Scheuklappen aufbaut, die uns daran hindern, die Kraft der echten und ernsthaften Argumente anderer wirklich zu spüren. Es ist ein großer psychologischer Unterschied, ob man sich privat über den Glauben eines anderen lustig macht oder ob man sich neben ihn setzt und ihn ernsthaft und mit offenem Herzen bittet, zu erklären, was er meint. Es geht nicht nur darum, nett zu sein, sondern auch darum, deinen eigenen Geist zu öffnen.
Und ich glaube, das ist einer der grundlegenden Punkte, die Haidt anspricht: Auge in Auge und Herz in Herz mit anderen Menschen anderer Sichtweisen zu stehen und ihnen wirklich zuzuhören, ist nicht nur eine nette Sache - es ist absolut unvermeidlich, wenn du deine kognitiven Scheuklappen ablegen und wirklich hören willst, was sie sagen. Aus einer Position der Verachtung, des Hasses oder der Abneigung heraus wirst du niemals in der Lage sein, die Argumente deines intellektuellen Gegners ernst zu nehmen. Daran wird deutlich, dass Empathie eine intellektuelle Tugend ist und nicht nur eine Eigenschaft netter Menschen.
Also wir neigen von Natur aus dazu, diese Trennlinien zwischen uns und den Angehörigen anderer Glaubenssysteme zu ziehen und schön mit Abneigung, Angst oder Hass zu besiegeln. Ich persönlich glaube, dass einer der Gründe dafür darin liegt, dass wir befürchten, dass wir ihre Lebens- und Denkweise gutheißen, wenn wir sie ernst nehmen und wie Freunde behandeln. Dies ist jedoch auf ein falsches Verständnis der Natur von Meinungsverschiedenheiten zurückzuführen.
Lass mich versuchen, das zu erklären: Meinungsverschiedenheiten, vor allem in moralischen und philosophischen Fragen, werden oft - und heute zunehmend - nicht als Folge einer aufrichtigen Auseinandersetzung mit den Ideen desjenigen gesehen, mit dem man nicht einverstanden ist, sondern als Folge eines Mangels an Verständnis für die Person, mit der man nicht einverstanden ist. Dies entspricht einer etwas zynischen Interpretation von Haidts psychologischem Modell. Das zugrundeliegende Vehikel der Uneinigkeit wird daher nicht als echte Meinungsverschiedenheit, sondern als moralische Ekel gesehen - da die in Frage stehenden Entscheidungen oder Verhaltensweisen nicht mit den moralischen Intuitionen übereinstimmen, die der "Urteilende" im Laufe seines Lebens entwickelt hat, was eine gewisse reaktionäre Ekel hervorruft, die in Kreisen religiöser oder ideologischer Frömmigkeit oft subtil gepriesen wird.
Das Selbst der urteilenden Person ist mit dem Selbst des Beurteilten unvereinbar. Würde derjenige, der anderer Meinung ist, die Situation und die subjektiven Umstände wirklich verstehen und sich in sie einfühlen und so die unterschiedlichen Selbste in Einklang bringen, wäre das Problem gelöst und die Unstimmigkeit würde verschwinden. So ist eine Art Gnostizismus der Lebenserfahrung entstanden, der alle Außenstehenden ausschließt, die nicht anders können, als die Situation zu missverstehen. Haters gonna hate: weil sie aufgrund ihrer Erfahrungen keine andere Wahl haben.
Diese Vorstellung von Meinungsverschiedenheiten entspricht zwar auf praktischer Ebene einem weit verbreiteten Phänomen, aber in Wirklichkeit ist sie nur ein Schatten dessen, was Meinungsverschiedenheiten sind und sein sollten.
Meinungsverschiedenheit in ihrer eigentlichen Form ist nicht ein Mangel an Verständnis, sondern ein (annäherndes) Verständnis der subjektiven und umständebedingten Aspekte, die zu einer Idee oder Entscheidung führen, in Verbindung mit der Überzeugung, dass ein wichtiges Gut nicht erreicht werden konnte.
Nehmen wir als extremes Beispiel den Fall eines Mannes, der seine Frau in einem Wutanfall ermordet. Es steht außer Frage, dass dies heute und zu allen Zeiten auf einen enormen moralischen Ekel stoßen würde. Die traurige Tatsache ist jedoch, dass viele der Menschen, die dieser Abscheu zum Ausdruck bringen, wahrscheinlich genau das Gleiche getan hätten, wenn sie wirklich in der Situation dieses Mannes gewesen wären. Ihre Abscheu würde sich wahrscheinlich in Luft auflösen, wenn sie die Situation des Mannes verstehen würden - vielleicht ist er genetisch mit einem extrem schlechten und reizbaren Temperament verflucht, hat einen alkoholkranken Vater, der ihn geschlagen hat, ist von einer materialistischen Weltanschauung besessen, die sich in der gesamten Kultur durchgesetzt hat und die den Wert des menschlichen Lebens nicht anerkennt, und hat überwältigenden Stress bei der Arbeit und Rechnungen, die er nicht bezahlen kann, usw. Die richtige Reaktion auf diese Situation ist eine traurige Anerkennung der fehlenden Selbstbeherrschung und der Liebe zu seiner Frau, die er hätte ausüben sollen. Er ist schuldig, weil er es versäumt hat, das Gute zu tun. Aber jeder, der seine Situation verstanden hat, würde wahrscheinlich verstehen, dass es für ihn extrem schwer gefallen wäre
Diese subjektive moralische Ekel scheint eine Funktion des mangelnden Verständnisses und Einfühlungsvermögens zu sein, das man für eine betrachtete Situation hat - das zeigt sich auch in dem oft wiederholten Satz "Ich kann nicht verstehen, wie jemand so etwas tun könnte", der als rechtfertigender Grund dafür dient, jemanden moralisch zu verurteilen. Das Selbst der Richterin steht ihr im Weg - sie kann die Realität nicht sehen, weil ihre widersprüchliche Reaktion, die von ihren Gefühlen ausgeht, das klare Verständnis und die Empathie vernebelt.
Ich selbst kämpfe mit der gleichen Versuchung, eher in meiner "gerechten Abneigung" gegen Menschen zu leben, die Dinge tun und behaupten, die ich nicht verstehen kann, oder besser gesagt, nicht verstehen will. Aber wenn ich ernsthaft über Haidts Buch im Lichte meines christlichen Verständnisses der menschlichen Natur nachdenke, komme ich langsam zu dem Schluss, dass dies Sünde ist - die Sünde der Pharisäer.
In einem Gleichnis aus dem Neuen Testament wird eine Frau beim Ehebruch ertappt. Die Pharisäer stehen um sie herum und bereiten sich darauf vor, sie für ihre Sünde zu steinigen, wie es das jüdische Gesetz verlangt. Sie verlangten von Jesus, dass er ihnen sagt, was das Richtige ist, denn sie wussten, dass das jüdische Gesetz es vorschreibt. Doch Jesus ging auf sie zu und sagte: "So sei es. Aber wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein". Als die Pharisäer darüber nachdachten, ließen sie alle ihre Steine fallen und gingen weg, angefangen mit dem ältesten.
Als sie alle gegangen waren, blieb Jesus mit der Frau allein zurück. Er fragte sie: "Frau, wer verurteilt dich? Hat es auch nur einer von ihnen getan?" Sie antwortete: "Nein, Herr". Jesus antwortete: "Dann tue ich es auch nicht. Geh und sündige nicht mehr."
Für mich ist dies eines der schönsten Gleichnisse im Neuen Testament, schon allein deshalb, weil ich mich immer wieder in der Rolle der Frau sehe, der die Liebe und Vergebung Christi zuteil wird. Aber was an dieser Geschichte so wichtig ist, ist, dass sie verdeutlicht, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen selbstgerechter Verurteilung und moralischem Urteil gibt, auch wenn wir als Menschen beides so oft miteinander verbunden sehen. Jesus hat die Frau nicht gehasst, er hat sie geliebt. Die Pharisäer liebten die Frau nicht und hegten wahrscheinlich einen lebhaften Hass und Abscheu gegen sie, weil sie das jüdische Gesetz missachtete.
Doch Jesus teilte auch die Überzeugung der Pharisäer, dass die Frau Unrecht getan hatte, und rief sie sogar auf, nicht mehr zu sündigen. Aber diese Überzeugung veranlasste ihn nicht, sie zu hassen oder sich vor ihr zu ekeln. Und das offenbart das tiefere Geheimnis, was Meinungsverschiedenheiten und moralische Urteile in ihrer Vollkommenheit sind.
Meinungsverschiedenheit oder moralisches Urteil in seiner eigentlichen Form bedeutet, eine Situation zu verstehen und, ganz ohne Ekel, mit Bedauern das Gute anzuerkennen, das nicht erreicht wurde. Der heilige Augustinus und die nachfolgende christliche Tradition definierten Sünde und Böses nicht als objektiv positive Dinge an sich, sondern als das Versagen des Guten, das nicht erreicht wurde, wo es hätte erreicht werden sollen.
Sünde und Böses sind durch den Kontrast zwischen dem, was war, und dem, was gewesen wäre, wenn das Gute erhalten worden wäre, gekennzeichnet - im Wesentlichen durch den Mangel. Das Böse ist eine Entbehrung des Guten. Das bedeutet, dass es möglich ist, die subjektive Situation eines Menschen zu sehen und sie vollständig zu verstehen, und dennoch zu sehen, wo das Gute fehlt. In der Tat, je klarer man eine Situation versteht, desto deutlicher kann die Uneinigkeit werden - aber umgekehrt sollte dadurch die pharisäerhafte, auf Ekel basierende Verurteilung umso mehr verschwinden. Denn die Liebe überwältigt das auf Selbstgerechtigkeit und Lieblosigkeit beruhende, selbstbezogene Urteil, aber nicht das Urteil im eigentlichen Sinn. Andernfalls hätte Gott in seiner alles durchdringenden Allwissenheit und seinem perfekten Verständnis der Welt und unserer eigenen Herzen die Menschheit niemals zur Umkehr aufrufen können, denn sein reines Verständnis hätte sein Urteil ausgelöscht. In der Tat ruft Gott uns nicht deshalb zur Veränderung und zum Wachstum auf, weil er uns nicht versteht, sondern weil er uns besser als jeder andere versteht.
Wenn wir anfangen, das, was wir als Fehler im Leben anderer ansehen, sei es falscher Überzeugungen, oder schlechtes Verhalten, weniger durch die Linse unseres Ekels und unserer Abneigung zu sehen, sondern mehr durch die Linse der Erkenntnis, dass ihnen objektiv etwas Gutes und Wichtiges fehlt, können wir es nicht mit Ekel, sondern mit aufrichtige Traurigkeit betrachten, dass ihnen in ihrer Perspektive wichtige Dinge fehlen. Das ist deshalb so wichtig, weil es die Möglichkeit aufrechterhält, dass die Lösung nicht darin besteht, dass unsere intellektuellen Gegner irgendwie vernichtet werden, wie es unser Ego so gerne hätte, sondern dass sie das, was ihnen fehlt, erkennen oder erfüllen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Unterbewusste Gefühle und Intuitionen haben zwar einen starken und oft nicht-rationalen Einfluss auf unser Denken, aber wir haben die Fähigkeit, dies als Menschen zu überwinden. Das Geheimnis dabei ist die einfache, aber harte Arbeit der Empathie gegenüber anderen. Bei den Menschen, bei denen unser unterschwelliger Gefühlselefant wahrscheinlich von ihren Ideen abweicht, müssen wir uns die Mühe machen, sie wirklich zu verstehen, einen Tag lang in ihren Schuhen zu laufen und die Welt wirklich mit ihren Augen zu sehen. Wenn wir das getan haben, kann unser metaphorischer Reiter tatsächlich sehen, was sein Reiter sagt. Das bedeutet nicht, dass wir alles gutheißen, was sie tun, denken oder fühlen, denn Meinungsverschiedenheiten können auch ohne Feindseligkeit oder Abneigung bestehen. Aber der Weg dorthin führt über den Versuch, andere Menschen zu begleiten, um zu verhindern, dass unsere abweichenden Wahrnehmungen uns den Blick dafür verstellen, was sie wirklich zu sagen haben.
Bevor ich weitergehen, möchte ich noch drei Grundsätze nennen, die ich vor einigen Jahren nach der Lektüre dieses Buches festgelegt habe und die ich bei der Suche nach der Wahrheit für äußerst wichtig halte:
Niemals die Überzeugungen anderer verspotten. Nicht ins Gesicht, nicht unter vier Augen, und nicht mit deinen Freunden und Leuten, die mit dir übereinstimmen. Das macht blind.
Niemals die Überzeugungen anderer angreifen, indem du erklärst, warum sie daran glauben, anstatt auf die eigentlichen Behauptungen einzugehen.
Versuch immer, die Argumente derjenigen, mit denen du nicht übereinstimmst, besser darzulegen, als sie es können.
Critical thoughts
Hier sind nun einige meiner kritischen Gedanken zu Haidts Behauptungen über die menschliche Natur:
Auch wenn ich Haidts Darstellung der menschlichen Natur im Großen und Ganzen zustimme, habe ich den Verdacht, dass sie insofern fehlerhaft ist, als dass sie zwar einen wichtigen Teil des menschlichen Verhaltens erfasst, aber nicht alles beschreibt, wozu Menschen fähig sind.
Die erste kritische Frage, die ich stellen möchte, lautet: Stimmt es, dass das rationale Denken nur auf den Reiter beschränkt ist und beim Elefanten gar nicht vorhanden ist? Ist der Elefant ein reines nicht-kognitives Gefühl oder ist die Kognition etwas, das sozusagen "unter allem läuft"? Gibt es wirklich einen so großen Unterschied zwischen unserem unmittelbaren Bewusstsein und unserem tief sitzenden Bewusstsein, was die Art ihrer Beschaffenheit anbelangt? Ich habe keine Hoffnung, diese Fragen vollständig beantworten zu können, da ich nur direkte Beweise aus meinem eigenen Bewusstsein und vermittelte Beobachtungen von anderen Menschen habe. Dennoch hat Haidt keine klaren Gründe für diese eher philosophische Unterscheidung zwischen verschiedenen Aspekten unseres Bewusstseins geliefert. Ich habe den Verdacht, dass die "tief sitzenden Intuitionen" und Gefühle, die wir haben, oft selbst rational sind, aber dem unmittelbaren Bewusstsein nicht sofort zugänglich oder präsent sind. Es kann gut sein, dass viele der Menschen, die in den von ihm durchgeführten Gesprächen befragt wurden, weiterhin an ihren Überzeugungen festhielten, weil sie zuvor sehr gute Argumente dafür gehört hatten, sich aber in ihrem unmittelbaren Bewusstsein nicht mehr daran erinnerten. In diesem Fall war es aus erkenntnistheoretischer Sicht durchaus gerechtfertigt, dass sie an ihren Überzeugungen festhielten, auch wenn es Argumente gegen sie gab. Ganz grundsätzlich: Ich bin misstrauisch gegenüber der Vorstellung, dass der Elefant völlig irrational ist.
Ich frage mich auch, ob in diesem Bild Platz für den Bewusstseinsstil ist, den viele religiöse (und stoische) Lehren fördern und auf dessen Wahrhaftigkeit sie bestehen - eine Art, in der Wahrheit und der Vernunft zu leben, anstatt Ideen hauptsächlich als Rechtfertigung für tiefere Intuitionen und Gefühle zu benutzen. Ich glaube nicht, dass dies ein Phänomen wäre, auf das man historisch so sehr bestehen würde, wenn es nicht durch die menschliche Hardware der Psychologie unterstützt würde. Wenn du einem buddhistischen Mönch oder einem christlichen Mystiker erzählst, dass unser Intellekt, unsere Vorstellungskraft und unsere Vernunft lediglich als Sprachrohr für unsere tief sitzende Gefühle dienen, würden sie dich wahrscheinlich für zutiefst unwissend und unreif halten. Ist es möglich, dass Haidt bei seinen Theorien über die Funktionsweise der menschlichen Vernunft auf eine begrenzte Stichprobe zurückgreift, indem er hauptsächlich die vom Materialismus geprägte westliche Welt betrachtet?
Die nächste wichtige Frage ist, was sind unsere tief sitzende Gefühle und woraus bestehen sie? Ich denke, es ist ziemlich ungerechtfertigt reduktionistisch, philosophisch auszuschließen, dass unsere Wünsche aus nichts anderem bestehen als aus instinktiven oder animalischen, nicht-kognitiven, bewussten Qualitäten.
Wenn ich persönlich versuche, mir die Realität wirklich anzueignen und sie auf einer tieferen Ebene zu verstehen, scheint mein Intellekt meinen Geist auszufüllen und zu beherrschen, und Dinge wie Liebe, Gerechtigkeit, Frieden und vor allem Freude scheinen mein Bewusstsein zu durchfluten wie ein Licht, das in die Dunkelheit scheint. Was soll ich sagen? **Wenn es sich um eine Illusion handelt, ist diese Illusion doch hartnäckig und lebensverändernd.
Wird dies durch Haidts Theorie erklärt? Vielleicht kann der "Hive switch", auf den ich später noch zu sprechen komme, dafür verantwortlich sein. Ich neige zu der Ansicht, dass viele Theorien über das menschliche Bewusstsein und die Psychologie sich wie das oft wiederholte Gleichnis von mehreren Blinden, die einen Elefanten berühren, verhalten müssen. Diese Einblicke in die Realität der menschlichen Psychologie sind äußerst wertvoll und wichtig, aber genauso wie das stoische Verständnis des menschlichen Bewusstseins als Kampf zwischen Vernunft und den Leidenschaften, den der Logos gewinnen könnte, nur ein begrenzter Einblick war, glaube ich, dass auch dies für das Bild vom Elefanten und seinem Reiter gilt.
Um es klar zu sagen: Ich denke, dass Haidts Postulat über die Dominanz des "Elefanten" im menschlichen Verstand eine treffende Beschreibung des menschlichen Verhaltens ist, aber ich glaube auch nicht, dass es das gesamte Spektrum menschlicher Fähigkeiten im Umgang mit der Wahrheit und der Realität abbildet.
Intuitive moralische Grundlagen als Fundament des menschlichen moralischen Denkens
Wie ich bereits erwähnt habe, kommt Haidt zu dem Schluss, dass die beste Erklärung für die menschliche Moral eine gewachsene moralische Intuition ist. Warum sollten sich moralische Intuitionen entwickeln, wenn es bei der Evolution um die Fortpflanzung geht? Die einfache Antwort ist, dass es ein sehr komplexes Unterfangen ist, die Fortpflanzung der Menschen sicherzustellen, und dass es fast immer vorteilhafter ist, in Gruppen zu arbeiten. Als die Menschen im Laufe der Jahrmillionen lernten, in Gruppen zu agieren, entwickelten die erfolgreichsten und fortpflanzungsfähigsten Gruppen moralische Intuitionen, die sie zu mehr Zusammenhalt und Teamplay in Gruppen führten. Dadurch konnten sie schließlich andere Hominiden ausstechen.
Das sind die fünf moralischen Intuitionen.
Fürsorge/Schaden (Fürsorge für andere und Verhinderung von Schaden für sie)
Fairness/Betrug (Ressourcen sollten gerecht verteilt werden. Betrüger sollten bestraft werden)
Loyalität/Verrat (Sei deinem Stamm gegenüber loyal; du verdienst erhebliche Konsequenzen, wenn du ihn verrätst)
Autorität/Unterwerfung (Unterwerfe dich der etablierten Autorität)
Ordnung/Degradierung (Sauberkeit und Ordnung in Geist, Körper und Umwelt)
Freiheit/Unterdrückung (Jeder Mensch verdient es, frei von Unterdrückung durch andere zu sein, und niemand sollte andere unterdrücken)
Ich werde nicht näher auf die genaue Natur dieser moralischen Intuitionen eingehen - dafür musst du Haidts Buch lesen. Bemerkenswert ist, dass Haidt der Meinung ist, dass die Hauptursache für politische und religiöse Meinungsverschiedenheiten in der selektiven Betonung bzw. Abschwächung bestimmter moralischer Intuitionen in unserem Geistesleben liegt und dass dies eine nicht-determinative genetische Komponente hat. Tatsächlich hat die Forschung gezeigt, dass es bestimmte genetische Komponenten gibt, die jemanden in Richtung Konservatismus oder Liberalismus prädisponieren können.
Eine weitere Sache, die kurz erwähnt werden sollte, ist, dass Haidt die allgemeine politische Kluft zwischen links und rechts als äußerst prädiktiv dafür ansieht, welche moralischen Intuitionen jemand betont. Liberale politische Überzeugungen sind ein guter Indikator dafür, dass man nur zwei moralische Intuitionen betont, während man den anderen gegenüber eher gleichgültig ist: 1) Fürsorge/Schaden und 2) Freiheit/Unterdrückung.
Konservative hingegen tendieren dazu, alle sechs moralischen Grundlagen als wichtige Werte in der Gesellschaft zu betrachten. Das sollte keine allzu große Überraschung sein. Schließlich wird den Konservativen oft vorgeworfen, sie würden sich zu sehr darum kümmern, "was die Menschen in ihrem Privatleben und mit ihrem Körper tun". Vielleicht muss man genauer hinsehen, um das besser zu verstehen. Warum sind die Konservativen oft so besorgt darüber, wie sich die Menschen in ihrem Privatleben verhalten, obwohl viele sozial abweichende Verhaltensweisen niemandem direkt schaden?
Haidt macht in seinem Buch deutlich, dass sich sein liberales Verständnis (oder das Fehlen davon) der konservativen Motive deutlich änderte, als er verstand, dass diese moralischen Grundlagen/Intuitionen die Hauptmotivation für die konservative Betonung bestimmter politischer Standpunkte waren, die ziemlich einschneidend in das Leben anderer einzugreifen schienen, während sich sein Liberalismus weitgehend auf den Utilitarismus von John Stuart Mill und die eher sterilen Prinzipien der Freiheit stützte: "Handlungen sind in dem Maße richtig, wie sie das Glück fördern, und in dem Maße falsch, wie sie das Gegenteil von Glück bewirken".
Er beschrieb auch eine Erfahrung, die er während eines Langzeitaufenthalts in Indien machte, als eine moralische Erziehung, wie er sie in den Vereinigten Staaten nie zuvor erlebt hatte. Als Liberaler lernte er zum ersten Mal in einer anderen Kultur, alle sechs moralischen Grundlagen zu akzeptieren, die in den USA eher von Konservativen vertreten werden.
Er kam zu dem Schluss, dass diese sechs moralischen Grundlagen einen echten Wert haben und dass die wahre moralische Welt viel "dicker und reicher" ist als das liberale moralische Weltbild. Dass die Evolution den Menschen von Natur aus für ein moralisches Spektrum geschaffen hat, das weit über Fürsorge, Schaden und Freiheit hinausgeht, sondern auch die Heiligkeit des Geistes und des Herzens, die Loyalität zu kulturellen Werten, Fairness und Gerechtigkeit sowie den Respekt vor Autorität umfasst.
Der Hive Switch
Schließlich ging Haidt auf Forschungsergebnisse ein, die zeigen, dass der Mensch über ein bestimmtes Modul im Gehirn verfügt, das gewissermaßen ein "Schalter" ist, der, wenn er durch bestimmte soziale Umstände ausgelöst wird, so viel gelobte menschliche Verhaltensweisen wie Selbstaufopferung, Staunen, Gruppenidentität, "sich verlieren" usw. auslöst.
Dieser "Hive Switch", wie er es nannte, ist nach dem Verhalten benannt, für das Bienen so bekannt sind. Bienen leben ein extrem selbstloses Leben und tun alles für den Bienenstock. Haidt behauptet, dass der Mensch zwar in erster Linie ein Primat ist, dass es aber einen eingebauten Mechanismus im menschlichen Verstand gibt, der uns auch teilweise bienenähnlich macht. Menschen sind wirklich zur Selbstlosigkeit gegenüber ihren Gruppenmitgliedern fähig. Aber sie kommt nicht von selbst und es müssen bestimmte Bedingungen gegeben sein, um sie auszulösen.
Es gibt eine Reihe von Dingen, die solche Erfahrungen auslösen können. Militärische Marschtechniken sind dafür bekannt, dass sie bei Soldaten unglaubliche Erfahrungen von Einheit und Selbstaufopferung hervorrufen. Meditation ist bekannt dafür, dass sie wunderbare mystische Erfahrungen auslöst, bei denen die Menschen angeblich eine Begegnung mit einer "viel größeren Realität" haben. Sogar von einigen Drogen ist bekannt, dass sie solche Erfahrungen auslösen können, die das Leben der Versuchspersonen nachhaltig mo ralisch verändern.
Haidt ist der Meinung, dass der Bienenstock-Schalter missbraucht werden kann, und das ist in der Gesellschaft auch schon geschehen - das 20. Jahrhundert ist voll von Beispielen faschistischer Diktatoren, die die menschliche Gruppenzugehörigkeit für abscheuliche und schreckliche Zwecke ausnutzten. Das Problem ist, dass Menschen, wie bereits erwähnt, selbstlos sein können - aber der Bienenstockmechanismus wurde angeblich entwickelt, um das Überleben der Gruppe zu sichern, nicht das allgemeine Überleben der Menschen. Das bedeutet, dass der Bienenstockschalter ausgelöst werden kann, um ein hohes Maß an Selbstlosigkeit gegenüber der eigenen Gruppe zu fördern, während gleichzeitig Mitglieder einer anderen Gruppe als "Feind" verteufelt werden können.
Ich glaube, dass Haidt etwas sehr Wichtiges über die menschliche Psyche herausgearbeitet hat. Ich glaube aber auch, dass dieser Bild einer Unterlassungslüge zum Opfer fallen könnte, wenn man ihn als das vollständige Bild der menschlichen Psychologie betrachtet.
Genauso wie ein winziger Unterschied im anfänglichen Kurs eines Piloten einen enormen Unterschied darin ausmachen kann, wo sein Flugzeug landet, können philosophische Annahmen unsere Schlussfolgerungen bestimmen und die Realität ungewollt verzerren. Wenn es darum geht, menschliches Verhalten unter der Annahme eines philosophischen Naturalismus zu erklären, können wir nur zu dem Schluss kommen, dass das Verhalten des Bienenstocks ausschließlich auf das Überleben der Gruppe ausgerichtet ist. Als Christ glaube ich zwar, dass der sogenannte Hive-Switch ein reales Phänomen ist, das den Menschen im Laufe der Evolution beim Überleben in der Gruppe geholfen hat, aber ich glaube auch, dass eine theistische Absicht im Evolutionsprozess die "Erfahrung des Göttlichen" als zusätzlichen Zweck des Hive-Switch im Sinn gehabt hätte. Da ich glaube, dass der Hive-Schalter eine Abkürzung zu einer tieferen Erfahrung des menschlichen Intellekts (nach außen gerichtete Vorstellungskraft) ist und dass ein wahrhaft religiöses Leben durch regelmäßiges Streben nach genau solchen Dingen gekennzeichnet ist, glaube ich, dass dieser Mechanismus bis zu einem gewissen Grad existiert, um Menschen zu tieferen Erfahrungen mit Gott und der Liebe zu anderen zu führen.
Andere Überlegungen
Der Kernsatz des neuen Atheismus wird abgelehnt
In seinem Buch nimmt Haidt eine Position ein, die in krassem Gegensatz zur Haltung der "neuen Atheisten" gegenüber der Religion steht, als das Buch veröffentlicht wurde. Die übliche militante Sichtweise der neuen Atheisten auf die Religion als "Geisteskrankheit", die "alles vergiftet", befürwortete die vollständige Ausrottung der Religion in der Gesellschaft und führte unter anderem Religionskriege, Zwietracht, Bigotterie und moralische Standpunkte zur Ehe als Gründe dafür an, dass die Religion sehr schlecht für die Kultur in der Gesellschaft sei.
Haidt argumentiert im Gegenteil, dass Religion ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Evolution ist und dass Gemeinschaften mit einem gemeinsamen moralischen Verständnis wie Religion regelmäßig den Bienenstockschalter auslösen und zu Großzügigkeit, einem gemeinsamen Sinn und Zweck im Leben und Wohlbefinden führen. Er argumentiert, dass die menschliche Psyche heute, ob wir es wollen oder nicht, für den religiösen Glauben und religiöse Gemeinschaften geschaffen ist und dass die Religion mehr Gutes in der Gesellschaft bewirkt hat, als die neuen Atheisten zugeben wollen, und auch viel weniger Böses in der Vergangenheit, als sie zugeben.
Es ist auffällig, dass die neuen Atheisten in den letzten Jahren weniger aggressiv gegenüber der Religion geworden sind. Sogar viele Atheisten und Evolutionsbiologen haben begonnen, Religion eher als eine "notwendige Fiktion" zu betrachten, die auf den Bedürfnissen der menschlichen Psyche beruht.
Letztendlich passt das ziemlich gut in mein Weltbild. Meine einzige Nuance ist, dass der religiöse Glaube schließlich keine notwendige Fiktion für die menschliche Psychologie ist, sondern eine notwendige Reaktion auf eine allgegenwärtige Realität.